Fotos / Besonderes

Fotos

Prüfung zum 3. Dan SOK 

v.l.

Jamal Measara  –  9. Dan

Norbert Müller    –  3. Dan

Fritz Oblinger     –  9. Dan

Willi Purkart       –  5. Dan

Prüfung zum 2. Dan

v.l.

Fritz Oblinger       –  9. Dan

Thomas Stockerl  –  2. Dan Shotokan

Robert Gröbmair  –  2. Dan SOK

Albert Patzelt        –  6. Dan

Lothar Ratschke   –  8. Dan

Besonderes

Karate als Kampfstil der Leibwächter des Königs von Okinawa –     Versuch einer historischen Deutung am Beispiel der  Kata Bassai-Dai, Tekki-Shodan und Empi

von Norbert Müller, Prüfungsthema zur Prüfung zum 1. Dan Shikokai

Einleitung: geographischer und geschichtlicher Hintergrund

Okinawa ist die Hauptinsel (nur ca. 100 km lang und 1200 km² groß) des aus ca. 140 Inseln bestehenden Ryukyu-Archipels, und bedeutet wörtlich „Tau im offenen Meer“, da sich die gesamte Inselkette auf über 1.110 km zwischen Japan im Norden und Taiwan im Süden erstreckt.

Der Sieg von Tokugawa Ieyasu in der Schlacht von Sekigahara im Jahr 1600 brachte Japan nach Jahrhunderten des Bürgerkrieges Frieden und Einheit. Der bedeutende Satsuma-Clan von Kyushu, der von der Shimazu-Familie angeführt wurde, befand sich auf der Seite der Verlierer. Um den Satsuma die Möglichkeit zu geben, die Schande des verlorenen Krieges abzuwaschen – und wohl auch, um den immer noch mächtigen Clan außerhalb der Haupt-inseln zu beschäftigen – erlaubte der Shogun ihnen die Invasion Okinawas.

Im Jahr 1609 eroberten die Satsuma mit 3.000 Kriegern das Königreich Okinawa, das bereits seit dem Jahr 1451 sowohl Japan als auch China tributpflichtig war. Da die Tokugawa-Shogune die Annektierung aber nie offiziell einräumten, stellte die okinawanische Sho-Dynastie  250 Jahre lang einen Marionettenregenten. Dieser hatte praktisch keinerlei  Befugnisse, da alle Macht von den im Hintergrund bleibenden Satsuma ausgeübt wurde.

Die Quellen sind sich nicht darüber einig, ob König Sho Hashi nach der Einigung der drei okinawanischen Provinzen zu einem Königreich im Jahr 1429 oder König Sho Shin nach seiner Machtergreifung (1477/1479) erstmals das Tragen von Waffen verboten hat. Jedenfalls wurden bereits im 15. Jahrhundert alle Kriegswaffen (hauptsächlich Speere und Schwerter) beschlagnahmt und im Schloss von Shuri verwahrt. Nach der Eroberung Okinawas erneuerten und verschärften die Satsuma das alte Waffenverbot. Der Besitz sämtlicher Gegenstände, die als Waffe angesehen oder dazu benutzt werden konnten, Verletzungen zu verursachen, war nun untersagt. Nach einigen Erzählungen durfte jedes Dorf nur ein Metallmesser besitzen, das an einer Säule auf dem Dorfplatz angekettet war und von zwei Samurai bewacht wurde.

Dies war die politische Situation Okinawas, als Matsumura „Bushi“ Sokon (um 1800 bis um 1900; die Angaben über seine Geburts- und Todesdaten variieren) Leiter der königlichen Leibwache wurde. Mit 10 Jahren war er Schüler des damals fast 80 Jahre alten Kampfkunst-meisters Sakugawa Shungo geworden; Sakugawa war der erste geschichtlich überlieferte Lehrer des okinawanischen „Karate“ (Tode). Bereits in jungen Jahren entwickelte sich Matsumura zu einem hervorragenden Kämpfer und galt bald als unbesiegbar. Sein Ruhm breitete sich bis nach Japan und China aus. Schließlich erhielt er vom König den Ehrentitel „Bushi“ (Krieger“). Um 1830 reiste er für mehrere Jahre nach China und studierte das Shaolin Quan Fa sowie die Waffenkünste. Später wurde er auch ein Meister des Jigen-ryu Schwert-kampfstils, der vom Shimazu-Clan der Satsuma praktiziert wurde. Er gilt als Begründer des Kampfstils Shuri-te (benannt nach seiner Heimatstadt Shuri), der im Gegensatz zu den übrigen auf Okinawa praktizierten Stilen sehr dynamisch, geradlinig und körperbetont war und in den er auch Prinzipien des Jigen-ryu  integrierte. Besonderes Merkmal des Jigen-ryu ist die Beendigung des Kampfes mit einem Hieb (sog. „Flammenwolke“). Das Prinzip des „Tötens mit einem Schlag“ – Ikken Hisatsu – wurde ein wesentliches Merkmal des Shuri-te. Matsumura soll die Kata Passai geschaffen haben, die auch seine bevorzugte Kata (Tokui Kata) war.

Tokugawa Ieyasu konnte die Macht mit Hilfe von ausländischen Technologien wie Gewehren und Kanonen ergreifen. Auch fürchteten er und seine Nachfolger den zunehmenden Einfluss christlicher Missionare. Um ihre Position zu sichern vertrieben sie daher alle Ausländer, schlossen die Grenzen Japans und verboten jeglichen Handel oder Kontakt mit anderen Staaten. Im Jahr 1853 erzwang eine amerikanische Flotte unter Kommodore Matthew Perry die Öffnung Japans und beendete damit dessen 250 Jahre andauernde Isolation. Sein Weg führte Perry auch nach Okinawa …

Der okinawanische Regent Sho Taimu besuchte Perry auf seinem Flaggschiff und versuchte, ihn zur sofortigen Abreise zu bewegen. Da Verstöße gegen das absolute Kontakt- und Handels-verbot von den im Hintergrund herrschenden Satsuma-Samurai  streng bestraft wurden (das japanische Recht kannte im Grunde nur die Todesstrafe), konnte er weder Proviant stellen noch sich auf diplomatische Beziehungen einlassen. Er hatte Perry nichts anzubieten. Am 06.06.1853 landete Perry mit zwei Kanonen, 50 Offizieren und zwei Kompanien Marinesoldaten  und erzwang sich den Zutritt zum Königspalast von Shuri.

Seit vielen Jahren musste sich die unbewaffnete okinawanische Polizei mit „barbarischen“ Walfängern aus Europa und Amerika herumschlagen, die auf Okinawa Verpflegung und Unterhaltung suchten. Nach Monaten auf See landeten die Seeleute, bewaffnet mit Gewehren, Pistolen, Säbeln und Messern und wollten sich amüsieren. Es war keine leichte Aufgabe, ihnen mit bloßen Händen entgegenzutreten und mitzuteilen, dass sie nicht willkommen seien.

Matsumura war also mit Sicherheit auf die Begegnung mit Perry und seinen Soldaten vorbereitet.

Er hatte die Leibwache mit ausgezeichneten Männern besetzt und bestens ausgebildet. Yasutsune Azato und Yasutsune „Anko“ Itosu, die späteren Lehrer Gichin Funakoshis, waren als Keimochi (okinawanische Adlige) mit Staatsaufgaben im Palast betraut und unmittelbare Schüler Matsumuras. Auch andere später berühmte Karate- und Kobudolehrer waren Inhaber öffentlicher Ämter. Es liegt nahe, dass viele von ihnen auch Mitglieder der königlichen Leibwache waren.

Aufgabenstellung der Leibwache 

Wie kann ein unbewaffneter Leibwächter das Staatsoberhaupt, seine Minister und Familie vor einem Kontingent bewaffneter Soldaten beschützen? Wie kann er verhindern, dass seine Schutzbefohlenen misshandelt oder gefangen genommen werden? Matsumura musste einen Plan haben und dabei auch die äußeren Umstände der zu erwartenden Auseinandersetzung einbeziehen. Nach meinen Recherchen musste er für sein Vorgehen Folgendes berücksichtigen:

  • Das „Schlachtfeld“ ist die große Empfangshalle in der Burg von Shuri. Der Boden ist

      großflächig und eben. Außer dem Thron gibt es keine Möbelstücke. Hinter dem Thron

      befindet sich eine verborgene Treppe, die in den ersten Stock führt.

  • Die Halle ist beleuchtet. Alle Gegner können klar gesehen werden.
  • Die Leibwächter kämpfen in Gruppen, nicht als Einzelkämpfer. Es sind handverlesene Kampfkunstexperten. Zu Beginn des Kampfes sind sie unbewaffnet. Vermutlich waren sie als gewöhnliche Diener gekleidet und konnten sich daher frei unter den Soldaten bewegen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
  • Die Gegner sind in nahezu erdrückender Überzahl. Jeder Leibwächter, der sich in ihrer Mitte bewegt, hat in jeder Richtung ein Ziel in Reichweite.
  • Die Gegner sind Soldaten. Sie wollen alle, die sich der Gefangennahme des Regenten widersetzen, zunächst ebenfalls festsetzen. Sie treten und schlagen nicht, sondern versuchen, ihre potentiellen Opfer zu ergreifen und zu Boden zu bringen. Soweit möglich, machen sie Gebrauch von ihren Waffen.
  • Die Soldaten sind mit Springfield-Gewehren und Bajonetten bewaffnet. Aus Sicherheits-gründen sind die Gewehre nicht geladen. Ein geübter Soldat benötigt ca. 30 Sekunden, um sein Gewehr zu laden und den ersten Schuss abzufeuern (Anm.:  unter Einbeziehung des Überraschungsmoments können die meisten Katas in Kampfgeschwindigkeit in dieser Zeit absolviert werden). Die Offiziere tragen Säbel und manche Pistolen in Holstern. Wenn die Leibwächter ihren Gegner die Waffen abnehmen können, verschaffen sie sich einen zusätzlichen Vorteil.
  • Der gegnerische Kommandeur befindet sich im Raum.

Für den Fall, dass Kommodere Perry die Gefangennahme des Regenten befehlen sollte, mussten die Leibwächter diesen und sein Gefolge  über die verborgene Treppe sicher aus dem Thronsaal bringen, bevor die Soldaten ihre Gewehre schussbereit geladen hatten.

Ein möglicher Lösungsansatz

Auf dieser Grundlage habe ich die Bunkai der Kata Bassai-Dai, Tekki-Shodan und Empi neu interpretiert und versucht, Anwendungen zu finden, mit denen die oben dargestellte Situation bewältigt werden könnte. Ungewohnt war dabei der Gedanke, nicht mit „leerer Hand“ sondern bewaffnet gegen einen ebenfalls bewaffneten Gegner anzutreten. Unter möglichst weitgehender Übereinstimmung  mit den Karate-Techniken habe ich eine Bunkai der Kata Bassai-Dai entwickelt, die den Kampf mit einem ungeladenen Gewehr auf der Basis der Stockkampftechniken des Sochin-ryu Kobudo (alle alten Karate-Meister waren gleichzeitig auch Kobudo Experten) wiedergibt. Auch für die Kata Tekki-Shodan und Empi habe ich eigene Anwendungen entwickelt, soweit ich für die zugrunde gelegten Kampfsituationen sonst keine überzeugenden Lösungen gefunden habe. Unter o. g. Voraussetzungen lasse ich alle drei Kata mit der Befreiung aus einem Haltegriff oder mit der Abwehr eines entsprechenden Versuchs beginnen. Auch im weiteren Verlauf sieht man sich immer wieder mit verschiedenen Halte- oder Klammertechniken konfrontiert. Zum Teil müssen mehrere Gegner nahezu gleichzeitig abgewehrt werden. Passend zur Interpretation habe ich den zweiten Kiai der Kata Empi etwas vorverlegt.

Das könnte Matsumuras Plan gewesen sein

  • Die erste Gruppe stürzt sich in die Menge und schafft Verwirrung. Möglichst viele Soldaten werden kampfunfähig gemacht. Wegen deren Vielzahl können auf jeden Gegner nur wenige Sekunden verwendet werden. Einem Gegner wird das (ungeladene) Gewehr entwendet und im weiteren Kampfverlauf eingesetzt. Um nicht zu Fall gebracht und auf dem Boden festgehalten zu werden, müssen die Leibwächter unablässig die Richtung wechseln. Auf ein Signal Matsumuras ziehen sie sich zur verborgenen Treppe zurück.

Um diese Kampfsituation darzustellen verwende ich die Kata Bassai-Dai.

  • Die zweite Gruppe gibt dem Regenten Deckung, bringt ihn zur nächsten Wand und an ihr entlang zur verborgenen Treppe. Gegnerische Soldaten werden dabei als „menschliche Schutzschilde“ verwendet. Die Leibwächter können weder nach vorne angreifen noch einem Angriff ausweichen, da dies den Regenten schutzlos machen würde. Sie können sich nur gemeinsam nach links oder rechts bewegen.

Diese Beschreibung passt nach meiner Ansicht perfekt zur Kata Tekki Shodan.

  • Matsumura kämpft sich zu Kommodore Perry durch. Im Weg stehende Soldaten werden möglichst schnell beiseite gefegt. Der feindliche Kommandeur wird entwaffnet, betäubt und entführt, um ihn als Druckmittel und zum Austausch gegen eventuell in Gefangenschaft geratene Leibwächter zu verwenden.

Die hierzu nötigen Techniken, insbesondere zum Betäuben, Schultern und Davontragen eines Gegners, finden sich in der Kata Empi.

Die Leibwächter des Königs von Okinawa wären demnach wohl hervorragend auf eine Konfrontation mit Kommodore Perrys Marinesoldaten vorbereitet gewesen. Wenn ein solcher oder ähnlicher Plan tatsächlich existierte, musste er aber nicht umgesetzt werden. Die Amerikaner verließen nach einem Bankett Okinawa ohne weitere Zwischenfälle.

                                                                         –

Inspiriert von „Shotokan`s  Secret – The Hidden Truth Behind Karate´s Fighting Origins“ (Bruce D. Clayton, Black Belt Books, 10. Ausgabe 2007).

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